Wie viel Gemeinschaft kann in 90 Minuten Prozesszeit „Gemeinschaftsbildung nach Scott Peck“ entstehen? Ein Erfahrungsbericht zu einem Kurzworkshop.
Gemeinschaftsbildung nach Scott Peck ist eine Methode, um Intuition, Authentizität, Konfliktfähigkeit und Achtsamkeit zu trainieren, sowie den Vertrauensaufbau in einer Gruppe zu erforschen und zu praktizieren. Der Gemeinschaftsbildungsprozess findet im Stuhlkreis weitestgehend unangeleitet statt. Es geht dabei darum, authentisch miteinander in Kontakt zu kommen, sich auf der emotionalen Ebene zu begegnen, Barrieren der Kommunikation zu untersuchen, aufzulösen und mit völlig fremden Menschen zu versuchen, eine Gemeinschaft zu werden. Die Besonderheit dabei ist, dass die Erkenntnisse, die sich dabei entfalten, viel überraschender und außergewöhnlicher sind, als dass man das vermuten würde.
Schnupperkurs Gemeinschaftsbildung des
„Netzwerk Frankfurt für gemeinschaftliches Wohnen e.V.“
Wie der Name „Gemeinschaftsbildung“ schon sagt, ist die Methode bei angehenden oder bestehenden Gemeinschaften besonders hilfreich. Deswegen veranstaltete das Netzwerk Frankfurt für gemeinschaftliches Wohnen e. V. am vergangenen Mittwoch nun schon zum vierten Mal einen Werkstattabend „Schnupperkurs Gemeinschaftsbildung nach Scott Peck“ – eine 3-stündige Abendveranstaltung. Birgit Kasper (Leitung Netzwerk Frankfurt) und Tabea Kayser (Öffentlichkeitsarbeit Netzwerk Frankfurt) waren auch als Teilnehmerinnen im Prozess mit dabei. Erfreulicherweise traf das kostenfreie Angebot auf reges Interesse und so waren etwas über 30 Personen – in überwiegend reiferem Alter – in Frankfurt im Netzwerk Seilerei am Abend versammelt, um kurz einmal in diese „Gemeinschaftsbildung“ einzutauchen. Sandra Schinke (47, Traum(a)sensible Paar- und Einzelberatung (HP), Diplomingenieurin) [1] und Tobias Unsleber (45, IT-Administrator, Gemeinschaftsbildungsbegleiter nach Scott Peck) [2] begleiteten diesen Workshop.
Der Beginn des Abends
Nach der Begrüßung durfte jeder Anwesende ausdrücken, wie er sich gerade im Moment fühlt. Anschließend folgten Informationen zu M. Scott Peck (1936–2005), dem Begründer der Methode, zum Wesen der authentischen Gemeinschaft und natürlich zum Wichtigsten und Einzigen, was die Teilnehmer:innen als Anweisungen für den Prozess mit auf den Weg bekommen: Den Prozessempfehlungen samt ein paar kurzen Erläuterungen dazu. Für einen Schnupperkurs arbeitet die Begleitung mit einer geringeren Anzahl von Empfehlungen im Vergleich zu einem vollen Workshop.
Die Empfehlungen
- Sage Deinen Namen, bevor Du sprichst
- Sprich, wenn Du bewegt bist. Sprich nicht, wenn Du nicht bewegt bist zu sprechen.
- Heiße alles willkommen: Gedanken, Körperwahrnehmungen und Gefühle, positiv und negativ
- Verwende Ich-Aussagen
- Drücke Unmut innerhalb der ganzen Gruppe aus
- Gehe ein Risiko ein!
Einige der Empfehlungen sind alles andere als klar. Herauszufinden, was diese Empfehlungen bedeuten, ist Aufgabe der Gruppe.
Anschließend liest die Begleitung noch die Geschichte „Das Geschenk des Rabbi“ vor und nach einer 5-minütigen Stille heißt es dann: „Wer bewegt ist zu sprechen, darf jetzt sprechen!“. Eine abenteuerliche Reise ins Unbekannte beginnt.
Der Prozess
Der Prozess beginnt gleich lebhaft und bleibt es auch. Reflektionen über die Geschichte werden geteilt. Interessanterweise sind diese von Veranstaltung zu Veranstaltung immer ein bisschen anders, weil eben verschiedene Menschen alles verschieden aufnehmen. Die Empfehlung „Drücke Deinen Unmut in der gesamten Gruppe aus“ greift die Gruppe recht schnell auf. Der Stein des Anstoßes muss nicht lange gesucht werden: Ein Fenster stellt sich bereitwillig zur Verfügung oder genauer gesagt eine Person, die das Fenster eigenmächtig schloss. Soll es nun offen sein oder geschlossen? Ist die störende Zugluft das Maß aller Dinge oder die Hörbeeinträchtigung durch den Fluglärm? Empörung über das nicht gefragt werden und darauf wieder Empörung über eine artikulierte Unselbständigkeit, für seine Bedürfnisse nicht selbst aktiv einzustehen. Viele aus der Gruppe bringen sich ein. Auch zu anderen Themen wird Unmut ausgedrückt. Nach einer Weile ist auf einmal eine unglaublich ausgelassene Heiterkeit im Raum. Der Unmut konnte ausgedrückt werden – durfte einfach sein. Viele haben ihren Unmut sozusagen mit dem Auskippen in die Gruppe aus sich selbst entleert und danach war dieser Unmut spürbar einfach weg. Als ob man schwere Rucksäcke abgeworfen hat und auf einer Reise danach viel unbeschwerter weiterlaufen kann. In Folge der Diskussion um das offene Fenster entschlossen sich die Teilnehmer:innen gemäß Ihrer Bedürfnisse einfach die Plätze zu tauschen.
Der Prozess geht weiter. Es werden Erfahrungen erlebt, mitgeteilt und gelegentlich werden Erkenntnisse über den laufenden Prozess ausgesprochen: „Wie wichtig doch zuhören ist!“, „Am Anfang Deines Beitrages habe ich Dich richtig gespürt. Danach ist es weggegangen.“, „Irgendwie hat sich die Energie in der Gruppe jetzt wieder zerfranst.“. Immer wieder ist eine gewisse Tiefe in den Beiträgen spürbar, jenseits dessen, was man im Alltag üblicherweise miteinander teilt und das unter weitestgehend einander fremden Menschen. Eine Besonderheit des Prozesses besteht auch darin, dass es nicht ein Thema gibt, zu dem sich alle zu äußern haben. Die Empfehlung nur dann zu sprechen, wenn man bewegt ist dazu, sorgt dafür, dass das Thema sich auch schnell in eine ganz andere Richtung bewegen kann. So unterbleiben eher Beiträge, die zwanghaft beim Thema bleiben, obwohl der Beitrag vermutlich oftmals sowohl den Sprechenden als auch die Zuhörenden langweilt. Nach einer Weile macht sich eine gewisse Zähigkeit breit. Die Gruppe wird insgesamt weniger lebhaft. Wir als Begleitung haben da eine klare Vorstellung, was hier vermutlich die Ursache ist. Unsere Vermutungen der Gruppe zu kommunizieren ist jedoch nicht die Aufgabe der Begleitung. Die Begleitung äußert die Vermutung erst nach dem Prozess, dass die Gruppe möglicherweise Unmut über eine gewisse Art von Beiträgen hatte, wobei mehrere Teilnehmer:innen klar zustimmten. Doch die Gruppe war sich anscheinend unsicher, wie sie mit diesem Unmut umgehen sollte und deswegen gab es hierzu vermutlich erst einmal keine Reaktion.
Nach dem einzigen Hinweis der Begleitung an diesem Abend löst sich die Zähigkeit der Gruppe immer noch nicht auf und aufgrund der wenigen Zeit zum Abschluss des Kurses beginnen einige aus der Gruppe bereits mit Beiträgen zu Reflektionen zum Prozess. Vielleicht ist das leichter, als in diesem seltsamen und unsicheren Prozess zu verbleiben? Nach ca. 90 Minuten Prozesszeit sind wir dann am Ende angekommen.
Die Begleitung
Die Begleitung hat eine sehr zurückhaltende Aufgabe. Die Handlungsmuster in Gruppen in solchen Prozessen sind mit ausreichender Übung klar wahrnehmbar – inklusive der negativen Emotionen, die viele dieser Muster auch eventuell noch bei der Begleitung auslösen mögen. Die Aufgabe der Begleitung ist es aber nicht, den Teilnehmer:innen diese negativen Emotionen zu ersparen. Nein, ganz im Gegenteil: Das Ersparen wollen nähme den Teilnehmer:innen die wichtige Erfahrung, den Verlauf der Dinge auch tatsächlich zu erleben, um so zu spüren und herauszufinden, welches Verhalten einerseits zu Nähe und Verbundenheit und welches wiederum andererseits Schmerz oder Langeweile fördert. Anders formuliert, so wie die offizielle Zielbeschreibung der Federation for Community Encouragement [3] es benennt: Das Erkennen von Barrieren effektiver Kommunikation und deren Auflösung. Da waren mehrere Seelen in meiner Brust. Eine, die ab und an ein stöhnendes „Oh Mann!“ oder ein freudiges „Ah. Schön, Dich in Deinem Beitrag wirklich gesehen zu haben!“ von sich gibt und eine weitere – vielleicht manchmal verschmitzt und lustig grinsend, die sich denkt: „Ich bin mal gespannt, ob, wann und wie die Gruppe darauf reagiert!“.
Als Begleitung geben wir nur Hinweise, wenn die Gruppe auch nach längerer Bearbeitung eines sich wiederholenden Musters nicht erfolgreich ist. Üblicherweise stimmt man sich unter den Begleiter:innen in einem Wochenendworkshop in den Pausen über solche Eingaben an die Gruppe ab. Aufgrund der begrenzten Zeit eines Schnupperkurses läuft das hier jedoch intuitiv und spontan. Auch hier gibt es wieder eine Besonderheit: Es gibt keine klaren Anweisungen und schon gar nicht an Einzelpersonen aus der Gruppe. Anregungen gibt die Begleitung nur an die gesamte Gruppe. Den einzigen Hinweis, den wir während dieses Kurses gegeben haben, war dieser:
Wie fühlt Ihr Euch gerade? Was bedeutet die Empfehlung „Sprich, wenn Du bewegt dazu bist!“. Welche Beiträge entsprachen Eurer Meinung nach dieser Empfehlung und welche nicht? Habt Ihr selbst nur gesprochen, wenn Ihr bewegt dazu wart?
Man könnte das natürlich genauso gut präzise formulieren: Stefan, mach das so und so! Lisa, Du redest etwas weniger! Matthias, von Dir kommt ja gar nichts. Beteilige Dich mehr! Andrea, Du machst keine Ich-Aussagen, etc. pp. Das funktioniert mitunter durchaus gut so, aber der Lerneffekt tritt nur dann wirklich ein, wenn man sich das selbst erarbeitet. Der Sinn der Methode ist ja gerade der, die Teilnehmer:innen hinsichtlich ihrer eigenen Wahrnehmungsfähigkeit zu trainieren und nicht die Begleitung nur nachahmen zu lassen. Denn spätestens dann, wenn neue, bisher unbekannte und schwierige Situationen auftreten, dann ist das Anwenden eines erlernten Standardrepertoires an Verhaltensmustern auf scheinbar gleiche Situationen möglicherweise absolut kontraproduktiv. Eine ausgeprägte Wahrnehmungsfähigkeit hilft im Gegensatz dabei, eine Situation wirklich vollständig zu erfassen und ist demzufolge Voraussetzung für einen angemessenen Umgang damit.
Das Ende des Abends
Nachdem der Prozess zu Ende ist, darf sich die Gruppe in einer Pause kurz entspannen – einige der Anwesenden verabschieden sich bereits – und danach verbringen wir mit dem Rest dafür etwas mehr Zeit mit weiterer Reflektion. Auch wir als Begleitung geben nochmal wieder, was wir an besonderen Situationen an dem Abend erlebt haben. Zur weiteren Vertiefung gibt es noch Begleitinformationen zum Prozess zum mitnehmen. [4]
Fazit
Der Schnupperkurs war eine für uns wirklich gelungene Veranstaltung, weil jeder Teilnehmende zumindest ein Stückchen dieser neuen Welt erfahren hat. An diesem Abend im Speziellen, dass der Ausdruck von Unmut nicht in einer Katastrophe enden muss, sondern dass das auch in Erleichterung und Heiterkeit enden kann. Die Anwesenden haben zu unterschiedlichen Graden das Besondere dieses Rahmens tatsächlich erfahren und ich habe mit Befriedigung in der Gruppe ein gewisses Staunen wahrgenommen, dass dieses Neue tatsächlich erlebbar wurde. Die Gruppe hat mit einigen der Empfehlungen recht erfolgreich experimentiert – auch indem sie begann, sich ihr kollektives Potenzial zu erschließen – und durfte ihren Erfolg auch in Form von Lebendigkeit, Freude und Verbundenheit genießen.
Nachtrag vom 6.8.2023
Ein kleiner Nachtrag noch: Manch einer mag sich denken: Ein Streit über ein offenes Fenster? Ernsthaft? Das sollen die großen Konflikte von Gemeinschaften sein?
Mit Sicherheit nicht! Natürlich ist eine Diskussion um ein offenes Fenster eine Lappalie. Doch die Art und Weise des Umgangs auch mit diesem sehr kleinen Konflikt ist ein erster Lernschritt auf dem Weg zur Meisterschaft. Da werden noch viele Konflikte und vor allem noch viele größeren Konflikte kommen. Die Intensität und Lebendigkeit in der Gruppe steigt mit der Höhe des Einsatzes und die Skala ist nach oben hin offen!
[1] Sandra Schinke – https://www.beziehungsart.net
[2] Tobias Unsleber – https://gemeinschaftsbildung.space
[3] Federation for Community Encouragement (FCE) https://www.fce-community.org/
[4] Handout für den Einführungskurs „Gemeinschaftsbildung nach Scott Peck“ online unter:
https://nextcloud.megabert.de/index.php/s/a495HHsD6567x8i